Aisha
„Hallo?“ Wie angewurzelt blieb ich stehen.
„Hallo“, erwiderte sie.
Das Wasser im Bach plätscherte vor sich hin, lief weiter und nahm meine Gedanken mit sich, weit zurück in die Vergangenheit – als ich noch zur Schule ging, die 555 Meter weiter, den Bachlauf
hinab, neben einer Sportanlage liegt.
Nach all den vielen Jahren, in denen wir uns sehr verändert hatten, erkannte ich sie auf Anhieb wieder. Nach kurzem Zögern setzte ich mich zu ihr, an den Tisch im Freien, neben dem Bach. „Darf
ich mich dazu setzen?“, fragte ich, als ich bereits Platz genommen hatte. Sie lächelte nur vieldeutig – wie sie es auch früher gern getan hatte.
„Den Mokka musst du probieren“, schlug sie vor. „Der ist original türkisch, und echt gut.“
Ich war genauso verlegen wie früher. Dabei hatte sich alles verändert – nicht einmal der Bach war der gleiche geblieben. Er war aus seiner Betonrinne befreit und renaturiert worden. Ich hatte nie
viel Zeit hier verbracht – entweder hatte ich zum Unterricht gemusst, um nicht zu spät zu kommen, oder wollte zum Bus, um nach Hause zu kommen. Heute verbrachte ich zum ersten Mal Zeit hier,
konnte dem Wasser beim fließen zuschauen, und ein paar Worte mit Aisha wechseln.
Früher war das nicht so einfach gewesen. Sie war noch ruhiger und schüchterner als ich gewesen. In dem einem Jahr, in dem
wir die gleiche Klasse besucht hatten, hatten wir nicht viel miteinander geredet. Danach waren wir in verschiedene Klassen gewechselt, hatten uns für einen anderen Bildungsschwerpunkt entschieden
gehabt – oder unsere Eltern für uns.
„Ein Mokka und ein Pistazien-Törtchen“, bestellte sie für mich. Sie fügte dem Kellner noch einen Hinweis auf türkisch dazu, den ich nicht verstand.
So richtig in Verlegenheit hatte sie mich gebracht, als wir einen schmalzigen Film in der Schule angeschaut hatten, in den letzten Tagen zwischen Zeugnis und Ferienbeginn, in dem es um Liebe
gegangen war, um Liebe mit Hindernissen – eine Verfilmung der West Side Story. Bei den romantischen Szenen hatte sie sich umgedreht und zu mir geschaut. Zu mir! Wie sollte ich, als
dreizehnjähriger Pimpf, richtig damit umgehen? So verschlossen und verträumt, wie sie stets gewirkt hatte, war das eine der großen Fragen für mich gewesen. Wenige Tage darauf hatte die Schule uns
in die Sommerferien entlassen gehabt – und später hatten sich unsere Wege nur noch selten gekreuzt. So war sie immer nur der Traum von einer exotischen Schönheit für mich geblieben. Zwischen
diesen kurzen Blickkontakten war stets sehr viel Wasser diesen seichten Bach hinab geflossen.
Der freundliche Auftritt des Kellners riss mich aus diesen Gedanken. Was da plötzlich vor mir auf dem Tisch stand, war an Perfektion kaum zu übertreffen. Ich freute mich, bewunderte das Törtchen,
probierte und war begeistert.
„Ist gut hier, was?“
„Ja, wirklich“, stimmte ich zu.
„Ich fand dich früher echt süß“, gestand sie mir.
Mir fiel die Kinnlade herab, was mit einem Bissen Törtchen im Mund nicht sehr elegant aussehen konnte. „Du hast mich auch verzaubert“, gestand ich ihr ein.
„Ich hab’ mich nie was zu sagen getraut“, gab sie zu.
„Ich auch nicht. Wir waren wohl einfach zu jung?“
„Hast du öfters an mich gedacht?“
„Ja.“ Wenn ich ehrlich war, meist bei Liebeskummer. Sie war die Option gewesen, mit der es all diese Probleme nicht gegeben hätte. Zumindest war das mein Wunschdenken gewesen.
„Bei Liebeskummer? Als Sehnsucht?“, fragte sie nach.
„Ja. Woher weißt du das?“
„Mir ging’s auch immer so.“
„Wie hätte es was werden können?“
„Ich glaube nicht, dass es was geworden wäre …“, schätzte sie es ein. „Wie geht’s dir heute?“
„Gut. Mir geht’s wirklich gut. Ich habe endlich einen Job, in dem ich halbwegs Geld verdiene. Und bin glücklich verheiratet, seit vielen Jahren. Bei dir?“
„Ich bin auch glücklich verheiratet, habe eine Tochter, und arbeite halbtags.“
Ich freute mich für sie, genoss Kaffee und Törtchen, und sah wieder zum Bach, wie weiterhin Wasser vorbei floss, und mich unaufhörlich an vergehende Zeit erinnerte.
„Besonders gesprächig bist du immer noch nicht.“
„War ich noch nie“, gab ich zu. „Aber heute stehe ich dazu, und fahre gut damit. Das Schöne am Älterwerden ist ja, dass man sich nicht mehr verbiegt.“
„Wie ist deine Frau in dieser Hinsicht?“
„Sie ist ähnlich ruhig. So reden wir miteinander. Einer hört dem anderen zu. Da fällt es jedem leicht etwas zu sagen. Wie ist das bei Dir?“
„Mein Mann ist lebhaft und reißt mich mit. Das brauche ich auch.“
„Gut, dass aus uns nichts geworden ist“, folgerte ich. „Es wäre nicht gut gegangen. So war immer eine Seifenblase geblieben, dass es etwas Reines und Perfektes gibt, da draußen … Nur leider
unerreichbar …“
„Ja!“ Sie musste lachen, wirkte dabei gelöst und das stand ihr gut.
„Bist du öfter hier?“, fragte sie mich.
„Nein.“ Ich wollte ehrlich bleiben. „Soll ich öfter kommen?“, erkundigte ich mich und sah sie herausfordernd an.
„Das wär’ voll süß“, erwiderte sie – vieldeutig, wie ich es von ihr erwartet hatte.
„Über alte Zeiten zu reden, hätte sich dann aber bald erschöpft“, gab ich ihr zu bedenken.
„Wir waren uns in Vielem einig. Wäre schade, das so verpuffen zu lassen.“
„Dass es mit uns nichts werden kann.“
„Nie konnte. Nie wird. Und wir besser eine neue Art der Verbindung finden. Da sind wir uns sowas von einig. Was machen wir jetzt mit dieser tollen Übereinstimmung?“
„Ich schreib dir mal meine Koordinaten auf“, schlug ich vor.
„Ich bin doch zu schüchtern mich zu melden“, warf sie süffisant ein.
„Das sehe ich bis hier rüber.“ Ich musste grinsen und reichte ihr mein Kärtchen. „E-Mail steht auch drauf, musst du nicht reden.“
„Mach ich.“
„Es hätte nichts werden können, früher. Danke für diese Gewissheit.“
„Und kann nie was werden. Aber wir verstehen uns gut. Bitte auch für diese Feststellung.“
„Was hast du eigentlich dem Kellner gesagt?“, erkundigte ich mich.
„Dass ich dich einlade, und er ein besonders schönes Stück bringen soll.“
„Dann zahle ich nächstes Mal.“
„Das war mein Plan.“
„Warst du früher schon so selbstbewusst?“
„Nein, das habe ich erst mit der Zeit gelernt.“
Nach wie vor lief Wasser den Bach hinab, erinnerte mich daran, dass jederzeit Zeit vergeht und sich uns entwickeln lässt. Wir können nur ein wenig steuern.
Verschwörerisch grinsten wir uns beim Auseinandergehen zu. Was die Zeit nicht so alles verändert …
Pers. Anm.:
Der Name Aisha ist eher arabisch, wenn ich das richtig verstanden habe. Türkisch wäre eher „Ayshe“. Da „Aisha“ für mich aber poetischer klingt, und es ein entsprechendes Lied gibt, habe ich
mich für diese Version entschieden.
Ein Name wie „Leila“ könnte mir rechtlich evtl. zu einem Verhängnis werden (was ich nicht glaube, aber als Autor muss auf solche Details achten …
Ein entsprechendes Treffen, wie hier geschildert, hat nicht stattgefunden, und entspringt meiner Fantasie. Ich habe versucht, die Thematik so allgemein wie möglich zu halten, damit möglichst
viele Leser etwas damit anfangen können. Auch darauf sollte man als Autor achten.
Das aber nur nebenher.
Mehr Entdeckungen aus diesem Münchner Stadtbezirk (Ramersdorf-Perlach) habe ich hier gesammelt:
Diese Story gehört zum Themenbereich: Was davor geschah
Robert und die Frauen – das war immer schon so eine Sache … Der Blick in die Schulzeit geht zurück bis Mitte der 80er.
Je älter man wird, desto putziger erscheinen Schüchternheit und Aufregung von früher … Ach ja, früher …
Was ich danach, in den 90ern erlebt habe, ebenfalls mit vielen Aus- und Umdichtungen, könnt ihr hier nachlesen. Und euch hoffentlich ebenfalls in diese Zeiten zurückversetzen:
Denn um mich geht es hier nur vordergründig. Viel wichtiger ist es mir, dass ihr euch darin wiederfinden könnt. Oder zumindest gute Unterhaltung bekommt. Auch darauf sollte man als Autor achten.
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