Original-Schauplätze revisited:
Gleis 3
„Gleis 3“ glänzt die schwarze Schrift auf dem gelben Schild in der frühherbstlichen Nachmittagssonne. Alle Waggons stehen hinter einer alten Halle, auf einem Abstellgleis, auf dem umzäunten
Gelände eines Jugendclubs. Auf Gleis 3 halten heute keine Züge. Der S-Bahnhof Neubiberg besteht aus einem Bahnsteig mit zwei Gleisen – eins in Richtung Stadt München, eins nach draußen.
Das war auch vor 28 Jahren so gewesen. Die alte Lumpen-Verwertungs-Fabrik neben dem Bahnhof hatte dicht gemacht, das Gleis für Anlieferungen wurde umgewidmet, die Halle zu einer Disko mit 2
Dancefloors. Flockige Electro-Musik wurde dort am Wochenende gespielt. Die zweite Halle war für Experimente. Auf dem Gleis wurden Waggons geparkt, die später zu einer Bar umgebaut wurden.
„Hey hey hey, I don’t love you anymore“, wummerte es langsam und theatralisch aus den Lautsprechern. Ich ging beschaulich drei Schritte vor, und drei zurück. Kerzen standen auf dem Boden. Durch
einen Flashback bin ich zurück im Frühjahr 1994. Schlich mit Grufties über den kahlen Boden, hielt meinen Blick nachdenklich zu Boden, einen Plastikbecher mit Bier in der Hand und schritt langsam
auf und ab.
Der Sommer brach damalige Rekorde – Tag und Nacht war es heiß, doch hier fiel die Temperatur deutlich ab. Die persönlichen Neuigkeiten waren niederschmetternd, die Nachrichten waren mehr als
gruselig, meine Laune war im Keller. Doch ich war nicht alleine damit. Den anderen zehn bis zwölf Schicksalsgenossen auf dem blanken Estrich, zwischen blanken Mauern, geschickt um die Kerzen am
Boden balancierend, schien es ähnlich zu gehen. In stummer Gemeinschaft gingen wir drei Schritte vor und drei zurück, je zwei Leute einander zugewandt, in ausreichend Abstand, hielten die Blicke
zu Boden gesenkt. „Hey hey hey …“
Nachdem die letzten Takte des Stückes verklungen waren, blieben wir stehen, hatten den nächsten Titel noch nicht erkannt und waren unschlüssig. Da kommt eine extrem schöne junge Frau auf mich zu,
weiß gepudert, schwarz geschminkt und gewandet. Ich kann es kaum glauben und bin ganz aufgeregt. Sie setzt an etwas zu sagen.
„Wärst du so gut mal mit anzupacken bitte?“
Ja, das hat sie wirklich gesagt. Und schwarzhaarig ist sie, trägt schwarze Kleidung, muss aber bereits über der 40 sein. Nach und nach realisiere ich, dass sie hier zu arbeiten scheint, und ich
lange genug herumgestanden bin, um mich als Hilfe beim Umbau anzubieten. Um uns herum sind ein paar Jugendliche aufgetaucht, die ebenfalls mit anpacken. Das Gebäude ist heute ein Jugendklub und
sie scheinen gerade umzuräumen. Ich helfe mit und wir haben zusammen gute Laune dabei.
„Warst du früher auch hier?“, fragt sie mich. Sie muss eine der Pädagogen sein, die sich um die Jugendlichen kümmern.
„Ja ...“
„Die Sauf-Börse war cool, was? Am Schluss gab’s immer unzählige Tequila, weil die im Wert so abgestürzt waren. Ich glaube, das haben die mit Absicht so programmiert ...“
Du meine Güte, die Trink-Börse ... Die kam Jahre später, als der Ort bereits stark an Attraktivität verloren hatte, durch die Konkurrenz im Münchner Stadtgebiet. Ja, ich bin am Ende auch immer
beim Tequila versackt. Stark nachgefragte Getränke waren im Kurs gestiegen, deswegen waren wir irgendwann vom Bier zum Schnaps gekommen. Es war die goldene Zeit der Börsengänge
gewesen. Bestimmt sind wir uns dabei eines Tages über den Weg gelaufen, aber ich habe keinerlei Erinnerung daran. Und die Musik dazu hatte ich furchtbar gefunden.
Die Jugendlichen kommen mir ähnlich positiv und hilfsbereit vor wie früher. Von ihrem selbstlosen Einsatz, ohne verengten Blick auf ihren persönlichen Vorteil, kann ich mir wieder eine Scheibe
davon abschneiden – um nicht so zu werden, wie ich nie sein wollte.
„An dich kann ich mich irgendwie gar nicht erinnern“, meint die Pädagogin zu mir.
„Ich auch nicht an dich. Ich war ja noch früher oft hier, bei den Grufties …“
„Oh mein Gott, die gab’s ja auch noch!“ Das klang enttäuscht und abweisend von ihr. Was mich wiederum in meiner früheren Musikwahl bestätigte.
Vielleicht waren wir uns tatsächlich über den Weg gelaufen. Vielleicht sieht man sich im Leben immer zwei Mal. Vielleicht ist das nicht so aufregend, wie man es sich immer erhofft. Und vielleicht
ist dieses Früher, als alles besser war, kein genauer Zeitpunkt. Vielleicht passiert diese Zeit für Viele genau jetzt. Ich wünsche es jedem. Vielleicht geben Viele auf, Neues zu entdecken, und
schwelgen stattdessen lieber in Erinnerungen an Zeiten, als sie noch dazu bereit gewesen waren?
Und wenn ich ehrlich bin, geht es mir heute besser denn je. Aber ein wenig Nostalgie, die darf schon mal sein.
Meine Hilfe wird nicht mehr benötigt und ich ziehe weiter – guten Zeiten entgegen. Besser werden sie nie. Ich muss sie nur zu nutzen wissen … Mit diesem Ausgang meiner kleinen Zeitreise hatte ich
nicht gerechnet.
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Dieses Stück 'Flash Fiction' habe ich dieses Jahr verfasst.
Es hat etwas von "90ies reloaded" - somit steht es in Zusammenhang mit folgendem Produkthinweis:
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Die besten Episoden aus den 90ern habe ich in diesem Buch zusammengefasst.
Es war eine schwere Aufgabe, all die Erinnerungen, Zeitgeschehnisse und Verflechtungen sinnvoll zu sortieren. Aber mit dieser Zusammenstellung habe ich das sehr gut gelöst.
Steigt ein! Lasst euch entführen zu einer Zeitreise, die viele Erinnerungen zurückbringt und euch zum schmunzeln bringt. Der Zug lädt euch zu einer exklusiven Rundreise, und bringt euch sicher wieder zurück.
Die Episoden sind kurz und unterhaltsam. Easy-Reading für die Weihnachtszeit.
Oder für die Mittagspause, auf dem Smartphone.