Retro-Reise-Bericht: April 1998
Per Frachtschiff auf die Färöer-Inseln
Pünktlich um neun Uhr morgens sind wir im Hafen, fahren solange herum, bis wir die Blikur finden. Es kommt, wie wir es kommen sahen. Im Hafenbüro weiß keiner etwas. Auf dem Schiff auch nicht, wir
sollen den Koch finden. Also spazieren wir an Bord herum, suchen den Koch, erkennen ihn an seiner Kleidung. Immer wieder hören wir in schlechtem Englisch die Sätze: „Ich weiß nicht, wir haben so
viele ...“ Von einer Reservierung weiß er nichts. Nach etwas Diskussion und Hartnäckigkeit dürfen wir bezahlen (350 DM für hin und zurück, 2 Personen und 1 Auto). Claus beobachtet währenddessen
die Autoverladung. Neuwägen werden vorgefahren und aufwendig verladen, die Reihe wird linear abgearbeitet. Also parkt er den Kadett vorne in die Reihe und lässt den Schlüssel stecken. Prompt
fährt ihn ein Seemann, in rotem Overall, auf die Rampe und in den Bauch des Schiffes. Wir sind dabei!
Mit dem Frachtschiff auf die Färöer! Die Schnapsidee nimmt Gestalt an.
Von Hand hatte ich an die Tourist-Info in Torshavn geschrieben, auf englisch und deutsch, für 1,56 DM Porto. Zwei Wochen später hatte ich alle Infos, rief beim deutschen Büro der Färoe-Line in
Bremerhaven an und hatte gebucht.
Dann der Anruf aus Bremerhaven: ab sofort wird der Ort nicht mehr angelaufen. Also Zustieg in Hirtshals, Dänemark, Anfang April.
Nordsee und Nordatlantik
Die Blikur tuckert los, den Hafen hinaus und auf die Nordsee. Es schaukelt angenehm, wir genießen es. Es gibt lecker Mittagessen, Ruhestunden in der Koje, Abendessen und Ruhe. Die meiste Zeit
liegt man im Bett. Lesen und Kartenspielen ist auf Dauer anstrengend, von der Schaukelei wird man irgendwann wuschig.
Die Blikur, Baujahr 1979, hat 12 Kojen, 2 Toiletten auf dem Gang, keine Duschen. Einmal half sie in Seenot, die dänische Dankesurkunde hängt im Gang und ist leicht zu verstehen.
Am nächsten Morgen kreuzen wir durch die Shetlands. Steil ragen Berge auf, braun und grün, dazwischen die See.
Dann sind wir auf dem Atlantik. Die Wellen sind andere. Es geht hoch, hoch, hoch, auf dem Wellenkamm hat man Aussicht. In der fahlen Sonne glitzern die Kämme der nächsten Wellen, etwa 10 Meter
hoch, bis zum Horizont sieht man sie heranrollen. Dann geht es ab, ab, ab. Und wieder hoch, hoch, hoch. Echter Seegang! Kartenspielen ist nicht mehr möglich - die Karten rutschen vom Tisch. Nie
werde ich vergessen, wie ich am Tisch sitze, während plötzlich mein Rucksack von der Wand auf mich zufliegt. Jetzt wirt auch klar, warum im Aufenthaltsraum jeder Tisch und Stuhl am Boden
festgekttet ist. Zu jeder Mahlzeit kommen weniger Passagiere. Wir bleiben standhaft - als einzige Landratten an Bord. Der Weg zur Kantine oder auf Toilette geht nur noch mit dem Arm an der Wand
schleifend.
Natürlich bremst solcher Seegang, wir haben Verspätung, würden mitten in der Nacht erst ankommen. Also dürfen wir noch eine dritte Nacht bleiben und frühstücken.
Bilder von der Blikur in schwerer See gibt es auch hier zu sehen:
http://www.caithness.org/boats/blikur/index.htm
10m-Wellen – auf 2D-Fotos schlecht festzuhalten ...
Die Inseln
Wir betreten die Färöer-Inseln, in einem ruhigen Hafenbecken, zwischen Lagerhallen und leeren Anlegeplätzen. Keine Grenzkontrolle, kein Zoll, kein Schild, - wir starten den Kadett, mit einem
Kasten Bier im Kofferraum, und fahren los.
Nach 40 Minuten Fahrt kommen wir nach Vestmanna, der drittgrößten Stadt, mit 1200 Einwohnern. Wir haben zwar die Adresse unserer Bleibe notiert, doch das bringt nichts, da die
Straßen keine Namensschilder haben. Also fahren wir solange herum, bis wir den Schriftzug des La Carretta finden. Die Wirtin hatte uns schon aufgegeben, da wir gestern nicht kamen. (Handys waren
noch nicht verbreitet). Endlich können wir duschen.
Der Ausblick beim Frühstück ist toll. Die Sonne scheint in den kleinen Hafen, eingerahmt von grünen Bergen. Wir wählen unser Abendessen aus und fahren los. Auf den Inseln gibt es fast 500 km
asphaltiertes Straßennetz, genug zum spazierenfahren. Zum Abendessen sind wir zurück. Nachdem wir dort auf unser Essen warten, ist das Restaurant geöffnet und es kommen auch mal Einheimische
vorbei.
Wenn man das Restaurant kennt, findet man den Weg. Vom Treppenhaus geht es durch die Tür in den Raum, der aussieht wie ein Wohnzimmer, zur Saison aber als Restaurant dient. Saison ist von 15. Mai
bis 15. August, dann hat jede Herberge und jedes Café geöffnet. Wir waren im April dort, also zur „Sturmsaison“, wie die restliche Zeit des Jahres genannt wird.
Vestmanna (Blick aus dem Frühstücksraum)
Unterwegs auf den Inseln
Das Straßennetz verbindet die Siedlungen und führt meist durch leeres Land. Hügel vulkanischen Ursprungs prägen das Landschaftsbild. Auf ihnen: Eine Handbreit Erde, darauf Heidekraut, Gras und
Moos. Immer wieder ziehen Sturzbäche Furchen nach unten. Das Gestein ist vulkanischen Ursprungs, braun und luftig. Brocken, groß wie ein Kleinkind, hebt man mit links. Bäume sind Mangelware und
zur Nutzung zu klein.
An ruhigen Buchten ist man allein, schaut aufs Meer und lauscht dem Brausen der Wellen, manchmal auch deren Krachen gegen die Felsen.
Das Wetter ändert sich alle drei Minuten. Sprühender, feiner Regen, Nebel, Wolken, Wind, Sonne, Wolken, Regen, Nebel, Sonne. Ein Wetterbericht bringt hier nichts.
Besiedlung auf den Färöern geht folgendermaßen: Überall wo es flach ist, kann man Häuser bauen. Mit Ausnahme eines kleinen Ortes sind alle am Meer. Dort stehen entweder rote Holzhäuser (wie in
Norwegen), oder Häuschen aus schwarzem Holz mit Grasdach (wie in Island). Davor hängt Stockfisch zum Trocknen. Manchmal sieht man Hunde, Hühner oder sogar ein paar Kinder draußen spielen.
Erwachsene trifft man kaum. Sie sind entweder auf See (zum fischen), oder im Haus (und schlafen).
Das letzte Gebäude vor der See ist eine Kirche, ein Holzhaus mit Türmchen obendrauf. An deren Farbe kann man die Orte auseinanderhalten.
In den wenigen Städten, also Siedlungen ab etwa 1000 Einwohnern, gibt es Geschäfte. Die Auswahl ist nicht groß, Tee und Kekse aus England, Käse und Gemüse aus Dänemark, Bier aus einheimischer
Produktion. Es geht gemächlich zu.
Tórshavn ist Hauptstadt, mit 12.000 Einwohnern die Metropole und Mittelpunkt des kulturellen Lebens. Hier gibt es ein halbes Dutzend Restaurants, eine Disko und eine Kneipe, das Café Natur. Innen
schick aus Holz, mit Scharz-Weiß-Photographien an der Wand und moderner Musik. Getränke und Gebäck sind sehr gut, wie fast überall in Europa, die Preise darüber (etwa 4 EUR für Kaffee, 6 EUR für
Bier).
Beim Stadtbummel entdeckt man große Anwesen, mit einem Portal aus zwei riesigen Walroßzähnen, enge Gassen, Sparkassen und Reisebüros.
Als die Holzhäuser größer und sauberer werden, auf der Halbinsel Tinganes, lesen wir an den Klingelschildern Namen wie Gesundheits- oder Innenministerium. Wir waren also im Regierungsviertel,
nirgends Sicherheitskräfte, wir könnten klingeln und den Ministern an den Kragen gehen.
Wir verhalten uns ruhig und unauffällig, nicht dass es noch heißt „Ausländer raus, und zwar alle beide“ – so unser Running-Gag.
Ein paar Straßen weiter kommen wir an der Polizei vorbei. Öffnungszeiten: Täglich 7-23 Uhr. Wer einbrechen will, weiß seine Zeiten. Das Folgeproblem: Man muss dann die Inseln verlassen. Das ist
ein ganz anderes Problem.
l.o.: Die Norröna, im Hafen von Tórshavn
Der Flughafen hat mit der Hauptstadt nichts zu tun, liegt auf einer anderen Insel. Für eine Startbahn braucht man etwa 3 km flaches Gelände. Solches findet sich auf der Insel Vágar, westlich von
Vestmanna. Wir unternehmen einen Ausflug zu Fuß, per Pendelfähre hinüber, eine Stunde querfeldein. Ganze drei mal hören wir Düsenlärm, immer näher kommend, bis urplötzlich ein Flugzeug zwischen
den Hügeln auftaucht.
Das Flughafengebäude besteht aus einer großen hölzernen Halle: Links Eingang, rechts raus zum Rollfeld. Dazwischen: Kurze Warteschlangen, wenig Personal, Souvenirläden mit Wollpullis und eine
Imbissbude. Nichts für Sicherheitsfanatiker.
Zurück nehmen wir die billigere der beiden Busverbindungen: Bis zum Fährhafen und zu Fuß auf die Fähre nach Vestmanna. Bei der teureren bleibt man im Bus sitzen, fährt dann gleich weiter nach
Torshavn.
Nachtrag: Inzwischen gibt es einen Tunnel zwischen den Inseln, der Fährbetrieb wurde eingestellt.
Es hat geschneit! Wir durchqueren die Hauptinsel Streymoy. Ein einsamer Hof steht im Schnee, ohne erkennbare Zufahrt. Wo es gefällt, hält man für Fotos. Aus einem Abgrund steigt Dunst auf,
braungrüne Hügel, mit Schnee überzogen, ziehen sich die Küste entlang. Motive allerorten!
Schnee bleibt hier nicht lange liegen, und es gibt auch warme Tage. Zeit zum wandern und die Tierwelt entdecken. Der Weg zu einem Vogelfelsen führt über Weideland. Schafe folgen uns und werden
mehr. Wenn man nur entschlossen genug wirkt, wird man als Anführer wahrgenommen. Und so folgen uns bald 20 Schafe, teils mit glatter Wolle („Heidschnucken“), teils zottelig, verwaschen und mit
Hörnern (von uns „Wikingerschafe“ genannt).
Am Geschrei wird klar, dass die Steilklippe voll von Vögeln ist. Jeder Vorsprung wird genutzt - auf einer Steilwand sind Vögel natürlich unter sich. Das Flattern und Piepen kennt kein Ende, für
jeden Vogelbeobachter ist hier der Himmel. Doch ohne Fernglas und Grundkenntnisse wiederholt sich für uns bald alles. Also marschieren wir unerschrocken zurück, mit unserer Schafherde im
Schlepptau.
"Wenn man nur entschlossen genug wirkt,
wird man als Anführer wahrgenommen".
Zur Nachbarinsel Eysturoy spannt sich eine große Brücke, Tankstellen gibt es genug. Zur Insel Borðoy geht es mit der Pendelfähre, Überfahrt 15 Minuten. Klaksvik, mit 5000 Einwohnern zweitgrößte
Stadt, ist Zentrum der Fischerei. Entsprechend sind die Geschäfte ausgelegt. Immerhin gibt es eine Pommes-Bude.
Nachtrag: Seit 2006 gibt es einen Tunnel.
Zwei Stunden später wäre Kaffee gut. Wir spazierten durch einen Ort, in dem der Prospekt uns ein Café verspricht. Wir stehen vor dem Haus und vergleichen es mit dem Foto. Die Straße davor, Berge
und Bucht dahinter, die Terrasse - das ist es. Doch wo sind die Tische, die Leute, wo ist das Schild? Wo ist hier überhaupt jemand? Das Haus ist dunkel und wirkt leer. Einfach reingehen? Nein,
lieber weiterfahren. So ieht es hier also aus, wenn nicht Saison ist.
Radiohören ist hier, wie Fernsehschauen auch, eine Frage des Timings. Da es je nur einen Sender gibt, teilen sich die Altersgruppen die Frequenz.
Nachtrag: Seit 2007 gibt es einen privaten TV-Sender.
Auf der Heimfahrt, kurz vor Vestmanna, nehmen wir eine jugendliche Anhalterin mit. Nachdem ihr das englische Wort für „geradeaus“ nicht einfällt, sagt sie es auf färingisch: „gradaus“.
"Das letzte Gebäude vor der See ist die Kirche" / Überall wo es flach ist, finden sich Siedlungen
Tags drauf machen wir einen Ausflug nach Suðuroy, der südlichsten Insel, und etwas abgelegen von der Gruppe der anderen Inseln. Die schicke Fähre Norröna, der Smyril-LIne, fährt von Tórshavn.
Während der Saison fährt sie von Esbjerg, Dänemark, nonstop in 18 Stunden, bietet Restaurant und Panoramadeck, Duschen und eine breite Rampe für Fahrzeuge. In der „Sturmsaison“ pendelt sie hier.
Die Fahrt dauert etwa eine Stunde, führt vorbei an Lítla Dímun, der einzig unbewohnten Insel. Wir können tolle Fotos von See aus machen, so wie man an jeder Ecke der Inselgruppe einsame Momente
und fantastische Motive findet.
Im Hafen dümpeln verlassene Boote ihrem Zerfall entgegen, rostige Motoren und Autowracks liegen herum. Die Berge sind schön, es gibt viel zu schauen. Hierher kommt man wegen der Vogelfelsen im
Westen, wo die Klippen steil abfallen. Unaufhörlich klatscht der Atlantik an schwarz-braune Felsen, konkurriert mit dem Krächzen der verschiedenen Vogelarten.
Bloß nicht die Zeit darüber vergessen und die Rückfahrt verpassen! Auf der Norröna ist es gut voll, die einzige Verbindung des Tages zur Hauptstadt ist hier viel wert.
Wenn wir nachmittags zurück in unsere Bleibe kommen, gibt es meist Tee für uns. Zeit den Ausblick zu genießen, oder ein paar Zeilen für meinen Band „Graues Land“ zu schreiben. Dadurch sind unsere
zehn Tage schnell vorbei und die Heimfahrt steht an.
Claus hat genug von der Schaukelei, deshalb wollen wir beim nächsten Halt in Thurso, Schottland, aussteigen. Die Fähre von England nach Belgien wäre dann wie Busfahren.
Da unsere Ankunft aber auf Niedrigwasser fallen würde, müssen wir den Kadett in einen Container fahren; dort wird er festgezurrt und per Bordkran auf Deck gehoben. Nebenan fallen Eiswürfel vom
Förderband in Kisten voll frischem Fisch. Gabelstapler fahren ihn unaufhörlich ins Schiff.
Großbritannien, auf Durchfahrt
Nach einer Nacht auf dem Atlantik sind wir da. Ein alter Mann mit Kleinbus wartet schon, bietet Knabbereien und Getränke, in einem schnuckligen Postauto aus einer anderen Zeit. Unser Container
wird abgeladen, wir warten ewig bis endlich ein LKW kommt und ihn auflädt. Wir wollen unbedingt mit, der Fahrer lässt uns auf seine Schlafkabine sitzen, fährt uns quer durchs Hafengelände, an
irgendeine Rampe. Es ist wie wir dachten: Keiner weiß etwas, wir bemühen ein paar Leute, damit der Container überhaupt behandelt wird.
Nach zweistündiger Fahrt schlendern wir durch Inverness. Die Gassen sind woller Menschen, Menschen, Menschen, die es eilig haben, überall sind Läden, Läden, Läden. Im Supermarkt gibt es alles
billig, bilig, billig. Kauf-drei-zahl-zwei, extra Inhalt gratis, Sammelpunkte; Gelbe Hinweisstreifen hängen überall von der Decke herab, wir sind völlig reizüberflutet. Jetzt haben wir unseren
Kulturschock, aber erst nach Verlassen der Färöer-Inseln.
Abends im Pub herrscht dichtes Gedränge. Man stehtlieber als zu sitzen, wandert herum und trifft Leute. Der Tresen wird belagert, jeder ruft seine Bestellung. „Schrei!“, meint eine Einheimische
zu mir, „Sonst bekommst du nichts.“ Doch der Barkeeper, ganz britischer Gentleman, erkennt mich als Fremden und nimmt die Bestellung auf, ganz ohne schreien.
Tags drauf in England hörten wir ungewohnte Fragen vor dem Essen: Den Fisch gedünstet oder gebacken, das Bier kühl oder temperiert?
Heimfahrt
Die nächste Überraschung ist für uns, dass der Frühling einkehrt. Überall stehen die Bäume in voller Blüte, die Luft ist mild und duftet – von Belgien bis nach Baden-Württemberg. Dann geht es
durch den Drackenstein-Tunnel, auf die Hochebene. Hier sind die Bäume kahl, der Frühling kommt erst vier Wochen später hier an.