Leipzig

Inkl.: Dessau, Naumburg, Quedlinburg, Bamberg
Februar 2003

Auf der Spuren wilder Zeiten, entdecken wir viel Ostalgie, und ganz viel Weltkulturerbe

Viel Charme der Neunziger war damals noch zu finden. Doch was ist von den „wilden Zeiten“ noch zu sehen? Hochburgen der Grufties, brodelnde Labore der Subkultur … – werden wir noch etwas davon finden?

In der Schlechtwetterzeit, den Semesterferien der Frau, machen wir eine kleine Low-Budget-Tour. Übernachten in Privatpensionen, essen in günstigen Wirtshäusern, etc.


Leipzig hatte Kultstatus. Treffpunkt der Grufties (zu Pfingsten), Subkultur, viel Alternatives. Ist dabei nicht so schrill wie Berlin – einfach gemütlich. In Leipzig-Süd & Connewitz, entlang der Bornaischen Straße, ist einer der Hotspots. Auch in den Folgejahren kamen wir gerne dorthin. Die Nato, das Puschkin, und all die anderen Cafés und Bistros waren legendär … Gemütlich ist es dort noch immer. Das Weiße Rössl bietet sogar Glühwein an, im Februar (bei diesen Außentemperaturen nicht verkehrt).
Das Maitre hat leider geschlossen. Seit 1904 gibt es dieses Jugendstil-Café in der Südstadt, praktisch durchgehend geöffnet. Die Einrichtung stammt aus dieser Zeit, der Charme ist unverändert erhalten geblieben, die Zeitungen hängen in Holzschienen an der Wand – alles wie früher. Nur der Zahn der Zeit hat ihm arg zugesetzt, der Laden muss von Grund auf renoviert werden. Schade. (Heute gibt es das Café Maitre wieder!
http://www.cafe-maitre.de/ ). Ach ja: die Wände (außen und innen) waren damals blaugrau.

oben: Nikolaikirche, Leipzig

r., 2.v.o.: neues Rathaus, ab 1905

dazwischen: Streetart ...


In der City machen wir eine Entdeckung: Tilo Baumgärtel stellt aus. Seine Bilder erinnern an Neo Rauch, die Ausstellung ist jetzt – warum zögern?
Wir können mit seiner Kunst unheimlich viel anfangen. Viele seiner Motive drehen sich um Themen wie Suche, Verlorengehen, vom Weg abkommen, evtl. Stecken bleiben, Warten, vergessene Welten. Nicht nur für „Ossis“, die zur Wendezeit so Anfang 20 waren, prägende Erfahrungen. (Tilo und ich sind der gleiche Jahrgang). Bis heute schaue ich mir den Prospekt zur Ausstellung gerne an … Zumindest auf seinen Bildern sind die „wilden Zeiten“ Thema …

Von Leipzig aus machen wir 2 Tagesausflüge.

"Ostalgie" auf dem Weg ...

 

NAUMBURG (Saale)
Ein kleines Städtchen, schnuckelig, kompakt, gemütlich. Highlight ist der Dom, romanisch, mit Doppelturmfassade, Kreuzgang, buntem Letten – und den berühmten Stifterfiguren. In Zeiten der Gotik, als schmale und asketische Figuren vorherrschten, möglichst leidend dreinblickend, entstanden hier körperliche und gutgebaute Figuren.
Wir müssen Eintritt zahlen, drinnen ist es kalt. Der Dom ist keine „Kirche“ mehr, sondern ein Museum. Das Geld fließt in den Erhalt des Gebäudes, zum heizen bleibt nicht mehr viel … Dafür sind wir fast alleine …

In der „Kanzley“ am Marktplatz wärmen wir uns auf. Alte Urkunden zieren die Wände, rote Plüschsofas verströmen Wiener Kaffeehaus-Flair. Danach ein wenig schlendern und Ostalgie einsaugen. Wir genießen es. An der Bude am Parkplatz noch en Bratwurstbrötchen verdrücken, und zurück nach Leipzig.

Abends (in Leipzig) laufen wir wieder zum Werk II, und hängen im Speisesaal ab. In einer alten Fabrik sind Disko- und Konzertsäle, auf dem Hof stehen Schrott-Plastiken. Die Kneipe ist im Industrie-Look gehalten, Arbeitsschutzhinweise von ca. 1903 dienen als Deko. Draußen ist es frostig, der Spaziergang tut uns dennoch gut.

 

DESSAU
Zum Bauhaus
Schön glänzt es in der Wintersonne. Draußen ist es zapfig, etwa -10°C. Wir sind fast die einzigen Besucher.
Das Bauhaus, errichtet 1919, war eine legendäre Architektur- und Designschule der 1920er + 1930er, Wegbereiter der Moderne.
Architektur:
Das Flachdach ist so eine Erfindung; sowie praktische Raumaufteilungen, frei von Traditionen.
Design:
Möbel beispielsweise waren meist aus Holz, und gerne mit Schnitzereien verziert – traditionelle Motive, wie das Familienwappen usw. Was haben ärmere Leute, ohne stolze Vorfahren? Das Bauhaus entwarf preisgünstige Möbel in schickem Design. Der Klassiker: ein Sesselstuhl aus Stahlrohr, mit schwarzem Leder bezogen (als Sitzfläche). Bis heute Standard in Büros etc., und für Viele erschwinglich.
    Klar dass dem Bauhaus linke Gesinnung unterstellt wurde, und es ab 1933 in Deutschland einen schweren Stand hatte, schließlich geschlossen wurde.
    Wir hängen noch in der schicken Cafeteria im Subterrain ab, besichtigen noch die Musterhäuser ein paar Straßen weiter. Wassily Kandinsky, Paul Klee, u.a., waren bekannte Mieter. Würfelhäuser mit Flachdach. Unten Küche, daneben Esszimmer, sowie Wohnzimmer. Oben Schlafräume. Bäder sind mit drin. Sieht fast genauso aus, wie jedes Standard-Reihenhaus. Was ist daran so besonders? -> Es waren die ersten Häuser mit dieser Auslegung, und das war damals revolutionär.

Ansonsten scheint in Dessau nicht viel los zu sein. Die Straße, in der wir geparkt haben, wirkt ausgestorben und verlassen – Abwanderung ist bis heute ein Thema. Wir versuchen zu erraten, wieviele der 24 Wohnungen noch bewohnt sind, und kommen auf 3. (Anhand von Vorhängen, bzw. Eisblumen an den anderen Fenstern).

ganz oben: das Bauhaus

darunter, l.+M.: in den Musterhäusern

dazwischen: viel "Ostalgie"

unten: "anhand von Vorhängen bzw. Eisblumen versuchen wir zu erraten, welche Wohnungen noch bewohnt, und welche verlassen sind." Wir kommen auf ca. 3 bewohnte. Deutlich sichtbar auch am Parkplatzangebot ...

QUEDLINBURG
Durch alte Dörfer, eine Pferdekutsche überholend, geht unsere Überfahrt. Parken auf dem Hof der Pension, der mit Drähten überspannt ist. Wachsen hier im Sommer Efeu bzw. Weinranken, oder dienen sie der Hexenabwehr?
Puppen und Bilder von Hexen finden wir in/an jedem dritten Haus – sie scheinen eine echte Plage zu sein …
Quedlinburg ist Stadt des Fachwerks, etwa 80% der Altstadt sind damit erbaut. Kaum eine andere Stadt kann dies bieten. Es ist ein Mekka für Zimmermänner und Handwerker, Renovierungsbedarf besteht hier mehr als genug. Leider auch der Bedarf an Geldern …
Die Stadtmauer ist gut erhalten. Nur darauf gehen kann man nicht (wie wir es aus Franken kennen). Sie ist wirklich nur eine Mauer, die Türme stehen dahinter (nicht mit der Mauer verbunden). Für mich ist das ein echter Unterschied zwischen dem nördlichen und dem südlichen Deutschland …
Im Rentnercafé am Marktplatz wärmen wir uns. Es versprüht herrlich altmodischen Charme – und ist so ziemlich das einzige. Die Generation der 20-40jährigen ist großteils abgewandert, sucht ihr Glück meist im Westen. (Wem das nicht gefällt, überlege was er tun würde, wenn es für ihn keine Chance gibt. Ich bedaure jeden, der gehen m-u-s-s, und bewundere seinen Mut beim Neuanfang. Gehen zu können ist immer gut, gehen zu müssen ist kein Spaß).
Wir essen im Resto unserer Pension. Das Gericht wird uns nahegelegt – wir sind die einzigen Gäste, und zur Saure-Gurken-Zeit scheint nicht alles von der Karte vorrätig zu sein … Verstehen wir. Dafür ist es freundlich und lustig, das ist viel mehr wert.

Stiftskirche St. Servatius
Ab 1070 romanisch erbaut, thront stolz auf einer kleinen Anhöhe. Außer dem gotischen Chor ist der Bau außen und innen noch sehr romanisch (was ich im Süden vermisse). Es ist dieses Archaische, die reine Idee des Baukörpers, die umgesetzt wurde, was mich so fasziniert.
Wir schleichen noch ein wenig auf dem Friedhof herum, bewundern alte Symbolik (z.B. eine abgebrochene Säule, als Symbol der Vergänglichkeit), schauen die roman. Kirche St. Wiperti von außen an (ein romanisches Kleinod, nur leider damals nicht zu besichtigen).
In der Schlossschänke nebenan gibts ein Heißgetränk mit einer Schillerlocke (eine Süßspeise, wie ein Windbeutel).

l.o.: St. Servatius. Links gleich daneben: das Schloss.

r.o.: Friedhof, vorne St. Wiperti, dahinter der Dom St. Servatius

M.l.: einer der Türme der Stadtbefestigung. Hinter der Stadtmauer, ca. 2m von ihr entfernt (anstatt in die Mauer integriert zu sein, wie im Süden häufig zu sehen)

M.r.: ein renoviertes Fachwerkhaus

unten: "Ostalgie"

Über den Harz rollern
Schiefergedeckte Häuser, kleine Dörfer und Städtchen, dunkler Wald – es hat etwas Unheimliches. Ich mag das.
Der Hexentanzplatz (gebührenpflichtiger Parkplatz) ist ein großer, ebener Platz, mit Riesenparkplatz, u.a. zum Feiern der Walpurgisnacht (uvm.)
Die Hexen sind zu Bronzefiguren erstarrt. Wenn es Zeit ist, tanzen sie, steigen auf ihren Besen, fliegen die Schlucht hinunter, wieder hoch und in um die Berge herum, ab in die Nacht …


Unser Fiat Seicento rollert die Straßen hinab, ins Flachland, am Kyffhäuser vorbei, über den Thüringer Wald, nach Franken, für unseren letzten Aufenthalt.

"Ostalgie on the fly":

l.: das ehem. Stadt-Café in Sondershausen

r.: irgendwo im Harz

 


BAMBERG
Als mein Kumpel C dort studiert hatte, war ich oft hier.
Die historische Altstadt ist eine der größeren. Unten, ums Rathaus, ist die Stadt der Bürger. Oben, am Domberg, war die Stadt des Klerus.

Der romanische Dom ist einer der größeren, dazu gratis und (im Winter) beheizt (Kirchensteuer macht’s möglich). Berühmt ist der „Bamberger Reiter“, eine Reiterfigur im Innenraum – wen er darstellt, ist bis heute unbekannt.

auf dem Domberg

 

Das Rathaus, auf einer Insel in der Pegnitz, bietet Stoff für eine Legende. Und die geht so: der Bischof, oben auf dem Domberg, duldete keine Stadtgründung auf seinem Land. Also bauten die stolzen Bürger ihr Rathaus, die Voraussetzung einer Stadtgründung ist, es nicht auf Land, sondern ins Wasser bzw. in den Fluss, und konnten daraufhin ihre Stadt gründen. (Ich konnte die Legende nicht verifizieren – die Story jedenfalls ist gut …).


„Unten“, in der Stadt der Bürger, stehen die alten Wirtshäuser. Beim Schlenkerla teilen wir uns Suppe, und ein berühmtes Rauchbier. An ihm scheiden sich die Geister. Es ist ein dunkles Bier, durch das Rauch geblasen wird. Schmeckt, als ob ein Räucherschinken drin gehangen wäre. (Mir schmeckt es).
Beim „Polarbär“ gibt es günstige Gerichte, für großteils studentisches Publikum (und für uns). An der Außenmauer ist tatsächlich eine Eisbärfigur angebracht, wie ein altes Zunftzeichen etc., als ob es das Wirtshaus als solches schon ewig gäbe …

Ein schöner Ausflug bringt uns noch zur Altenburg. Bei Schnee, Sonne und leichter Kälte ein schöner Anblick, und Ausblick auf die Stadt.
Auf dem Rückweg schauen wir nach St. Michael (auf dem Michelsberg), einer Klosterkirche. Bekannt für ihr Herbarium: die Kirchendecke ist mit Kräutern ausgemalt, wie ein Lexikon (leider kein gelungenes Foto von uns erhalten). Externer Link:

https://de.wikipedia.org/wiki/Kloster_Michelsberg

 

o.: auf der Altenburg

u.: auf dem Michelsberg, die Klosterkirche von außen.


Abends geht’s in die Kneipe – nicht in irgendeine. „Torschuster 3000“ nennt sich der Laden am Domberg. Das denkmalgeschützte Haus trägt seit Jahrhunderten den Namen „Torschuster“.
Ollie, ein ehem. Techno-DJ aus Bamberg, hat sich hier zur Ruhe gesetzt. Nix mehr Wochenendschichten in Frankfurt, München oder gar Berlin – nur noch Kneipe und gediegene Musik.
In dem kleinen Raum finden max. 10 Personen einen Sitzplatz, der Rest steht irgendwo herum – am Tresen, im Raum, vor dem Haus, wandelt hin und her. Viele Gäste kennen sich, gehen vom einem zum anderen. Dazu dudelt elektronische Musik von CD, in Kneipen-Lautstärke. Ein Opa, schwerhörig, mit altem Dialekt, in langer, schwarzer Lederhose („Rockerhose“) ist oft da. Es ist lustig und nett, wir genießen es.
    Recherchen ergeben: Seit „der Neuzeit“ ist ein neuer Wirt dort. Jetzt ist es gemütlich, mit Holzvertäfelung, alten Blechschildern, Lodenjacke Karohemd, Bluesrock und Oldies. Viele Kommentatoren sind froh, dass die wilden Zeiten in dieser fragwürdigen Gaststätte endlich vorbei sind. (Ich trauere ihnen nach)
Da mussten wir also durch den halben (schon stark entvölkerten) „Osten“ fahren, um auf dem Rückweg in Bamberg (das vielen Bayern als „Provinz“ gilt), Reste der „wilden Zeit“ finden zu dürfen …

 

Mit kleinem Budget waren wir ca. 10 Tage in Deutschland unterwegs, in Kleinstädten, und haben unheimlich viel gesehen – Weltkulturerbe, scheinbar Unscheinbares, Kurioses, Interessantes. Haben äußerst freundliche Menschen getroffen. Dabei waren wir nicht wirklich weit weg …
Für das Folgejahr haben wir uns eine ähnliche Tour vorgenommen (wieder im Februar, zu den Semesterferien). In Deutschland (& Umgebung) gibt es mehr als genug zu sehen, es muss nicht immer eine Fernreise sein …